Eine persönliche Einschätzung.
Teil1: Ursache
Eine Partei im historischen Sinne, so hat Bruno Kreisky, der vor fast genau einem halben Jahrhundert zum Parteivorsitzenden wurde, die Sozialdemokratie einmal beschrieben. Anlässlich des so genannten Plan A – der Kritik an ihm und der Diskussion darüber in den diversen internen Foren der SPÖ – habe ich mich entschlossen, hierzu eine kleine Denkschrift zu verfassen.
Sie verfolgt nicht das Ziel, sich für die eine oder die andere Seite auszusprechen, sie hat auch nicht den Anspruch bisherige Politik zu beurteilen, sondern versucht sie zu verstehen aus der Sicht eines einfachen Parteimitgliedes. Warum gibt es die Sozialdemokratie überhaupt? Wo steht sie derzeit?
Die politischen Anfänge
Als vor mehr als 125 Jahren die Sozialdemokratische Partei gegründet wurde, war die politische Struktur in nahezu ganz Europa eine ganz andere als heute. Monarchen herrschten an Stelle der demokratisch gewählten Staats- u. Regierungsoberhäupter. Parlamente bestimmten bestenfalls mit. Ihre Rechte waren zumeist sehr weit gefasst, ohne sie gab es keine Gesetze, ohne ihre Zustimmung konnte kein Parlament arbeiten. Wer zahlt schafft an, hieß es damals und heute. In den frühen 1890igern hieß das allerdings auch ein unterschiedliches Gewicht im Parlament. Je mehr Geld man hatte, desto mehr wog die Stimme. Das galt übrigens auch für vermögende Frauen, auch wenn sie ihr Ehemann zu vertreten hatte. Dieser Einfluss wurde hauptsächlich durch Unternehmen ermöglicht, die dementsprechend eine unternehmensfreundliche Politik erwarten durften. Sozialgesetzgebung gab es zwar auch, aber nicht zwangsläufig im Sinne der Sozialdemokratie. Die Partei war durch diese Wahlgesetzgebung zwangsläufig in den Parlamenten unterrepräsentiert. Zumeist saß nur eine handvoll Abgeordneter den konservativen oder liberalen Mehrheiten gegenüber.
Dies führt uns zum ersten und vielleicht wichtigsten Gründungsfaktor. Der Abhängigkeit von wohlwollenden Chefs. Firmenbesitzer konnten sich freilich als Angestellte ihrer Arbeiter fühlen, niemand verbat ihnen das (man erwartete das insgeheim vielleicht sogar von angeblich guten Christenmenschen), doch niemand hatte ein Anrecht darauf. Geschweige denn war es gern gesehen, danach zu fragen.
Erst die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechtes durch Franz Joseph I. führte dazu, dass die Sozialdemokratie zum ersten Mal auf dem Boden des heutigen Österreichs stärkste politische Partei wurde. Frauen waren damit vorläufig von der politischen Mitbestimmung gänzlich ausgeschlossen, und die Frauen der Sozialdemokratie haben es ihren männlichen Kollegen lange nicht verziehen diesem neuen Wahlrecht zugestimmt zu haben. Diese Entwicklung fand parallel, wenn auch in anderer Form, in allen damaligen existierenden Europäischen Staaten statt.
Politischen Parteien liegt der Mechanismus zu Grunde, dass Menschen sich organisieren, um bessere Bedingungen für ihr Leben zu erreichen. Die Sozialdemokratie konnte diese Organisation – zumindest bis 1911 – ohne den das politische Klima in ganz Europa vergiftenden Nationalismus bewerkstelligen. Dennoch war auch die Sozialdemokratie nicht davor gefeit. Im eben genannten Jahr zerbrach die Gemeinschaft der Tschechischen und österreichischen Sozialdemokratie, der einzigen übernationalen Partei im Wiener Parlament. Trotz der Überzeugung vieler, die Sozialdemokratie würde ein sich gegenseitiges Abschlachten der Völker Europas zu verhindern wissen passierte geradewegs das Gegenteil. Die pazifistische Einstellungen der Parteien fielen im Angesicht politischer und/oder gesellschaftlicher Gleichberechtigung im August 1914 wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
In Deutschland muss sich die SPD bis heute für die Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 erklären. Der Mörder Jean Jaures’, des einzigen sozialistischen Parteiführers der versuchte, dass sich abzeichnende Blutbad doch noch – etwa durch europaweite Streiks – zu verhindern, wurde Jahre später freigesprochen, denn ohne den Krieg wäre die “nationale Schande Frankreichs” (der Verlust Elsass-Lothringens 1870 an das Deutsche Reich) nicht beseitigt worden.
Einzig Italiens Sozialistische Partei konnte das Land vorläufig aus dem Krieg heraushalten. Österreichs Sozialdemokratie konnte mangels Parlament gar nicht erst abstimmen. Es war im März 1914 durch Kaiser und Regierung „sistiert“, also in die Zwangsferien geschickt worden
Nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg kam der letzte Gründungsfaktor hinzu. Vorhandene Arbeit sollte aufgeteilt werden und jedwede Person ein Stück vom Kuchen abbekommen. Dies manifestierte sich in Österreich als Austromarxismus, später als Aufteilung des wirtschaftlichen Wachstums in der Sozialpartnerschaft. Dieses Konzept einer gesicherten permanenten Veränderung der Einkommenssituation bremste den Willen zur Revolution und der damit verbundenen Unsicherheit.
Freilich ist das kein Alleinstellungsmerkmal der Sozialdemokratie. Auch christlichsoziale und Christdemokraten beanspruchten Ähnliches für sich, mit sich zumindest überschneidenden Zielgruppen, aber anderen Methoden. Wo die Christdemokraten weiter an das christliche Herz appellierten und die Kirchen Armenspeisungen durchführen, ließen hatte sich die Sozialdemokratie längst genommen was sie zu brauchen glaubte. Erst nach dem zweiten Weltkrieg hat die Christdemokratie selbst auch diesen Weg eingeschlagen.
Die Sozialdemokratie, mehr oder weniger in ganz Europa, wurde also vor allem durch mangelnde Mitgestaltungsmöglichkeiten und dem Wunsch nach Organisation gemeinsamer Interessen gegründet. Erfolgreich wurde die Sozialdemokratie durch ihre Politik der Teilhabe aller am wirtschaftlichen Wohlstand und ihrer Einbindung in wichtige Belange der Wirtschaft.
Die Sozialdemokratie der Gegenwart
Was davon trifft heute noch zu? Auf den ersten Blick natürlich vor allem die Rolle der Sozialdemokratie in der Sozialpartnerschaft. Auch die Stimmen der Menschen sind immer noch gleich viel wert. Die wirkliche Macht heutiger Parlamente ist eingeschränkt durch die so genannte Fraktionsdisziplin. Die parlamentarische Kontrolle der Regierungen durch die jeweiligen, sie stützenden Parlamentsmehrheiten ist in Europa als wenig gegeben zu bezeichnen. Die Parteiapparate, die hoffen ihr Dasein durch an der Macht umgesetzte Ziele zu rechtfertigen, sind Mittler und Puffer zwischen Wahlvolk und Körperschaft zugleich.
Was darf die Sozialdemokratie hoffen? Nach jüngsten Wahlergebnissen in Graz müssen wir erkennen, dass die Ursache der Sozialdemokratie zwar gegeben, aber ihre Wirkung beschränkt ist. Den Sozialdemokratischen Parteien Europas droht das Schicksal ihrer Genossen in Venezuela oder Griechenland, die Reduktion auf das Niveau einer Splittergruppe. Der Zuspruch lässt nach.
Was tun? Hat die Sozialdemokratie Zukunft? Darüber wird demnächst zu lesen sein.
Foto: Votava